Sitzgelegenheit

Die vornehmste Eigenschaft der Dinge sollte ihr Funktions- und Nutzwert sein. So gehen von ihnen selbständige Signale aus, gewissermaßen die stumme existenzielle Ankündigung eines Dinges, etwa ein Hammer, dessen Stiel zum Anfassen ist. Ein Stuhl lädt zum Sitzen ein und ein Haus will bewohnt werden. Doch was macht ein „Haus auf Stühlen“, vor allem dann, wenn es sich nicht lediglich um ein sperriges Sprachbild, sondern um ein plastisches Objekt handelt, das nichts anderes zeigt als das, was sein Titel bereits benennt: Ein Haus auf Stühlen? 

„Mau-Mau“ ist dagegen etwas für die Imagination. Hier tritt das Haus als Modell auf, als Prototyp für Leben und Wohnen der Kleinfamilie als Selbstversorgergemeinschaft, wie es Kinderzeichnungen und Legolandschaften bevölkert. Mit seiner Herkunft aus sozialutopischen Siedlungskonzepten der Gartenstadt- und Heimatschutzbewegungen im frühen 20. Jahrhunderts bot es Anknüpfungspunkte für seine nationalsozialistische Vereinnahmung ebenso wie für die Siedlungspolitik der deutschen Nachkriegszeit, als Autonomie und Sicherheit zu leitmotivischen Sehnsuchtszielen wurden.

All das weiß man nicht als Kind, wenn sich Gesichtskreis und Aktionsradius schrittweise erweitern und sich dabei der Ort des Wohnens in die Erinnerung einschreibt. Was passiert später mit dieser Erinnerung, lässt sie sich überhaupt fassen? Welche Bedeutung hat sie für eine Biografie?

Das Haus in „Mau-Mau“ nähert sich solchen Fragen. Ohne festen Boden und leichtgewichtig hat es sich offenbar seines Mobiliars und Inventars entledigt. Einzig vier Stühle sind geblieben - individuelle, typgleiche Stellvertreter mit Familienähnlichkeit, wie sie sonst um einen Tisch herum stehen. Indem sie das Haus tragen bzw. es sich auf ihnen niedergelassen hat, entsteht je nach Perspektive eine Konstellation gegenseitiger Verbundenheit oder Abhängigkeit.

Leer ist das Haus dennoch nicht, entweicht aus den opaken Wandflächen doch ein sonderbar pastellenes, gleichsam toxisches Licht. Ohne Einblick und Zutritt machen die blinden Fenster es zur einem Closed space – eine bizarre Inszenierung, die augenzwinkernd mit „elevation“ zu beschreiben wäre. Eine Erscheinung, präzise konstruiert aus Dachlatten und gewebten Plastikbändern, verheißt einen verborgenen inneren Gehalt, den niemand zu Gesicht bekommt – was nicht zuletzt unser Begehren erst zu wecken vermag, obgleich von einem wie auch immer gearteten Inneren nicht das Geringste erwartet werden darf. So ist nicht, was wir nicht sehen, nicht existent, sondern während wir etwas nicht sehen, kann es ganz anders sein, als wir glauben. Allein als eine nur imaginierte Behausung, bleibt das Haus auf Stühlen ein Bild, in dem ein vermeintliches und schier unerreichbares Inneres womöglich nicht mehr ist als sein Äußeres – vergleichbar dem ikonischen Blick auf den eigenen Hinterkopf im Spiegel. Ein Blick, der die Schleife der eigenen unmittelbaren wie unvermittelbaren individuellen Erinnerungswelt nie verlässt, in der ironische Distanz und emotionale Verbundenheit widerspruchslos zusammenfallen. Partiell teilbar nur mit den Inhabern der Stühle, die gemeinsam das Haus tragen und die darin vor Zeiten zusammen Mau-Mau spielten. „Mau-Mau“ ist eine Familienmetapher.

Dr. Gudrun Bott

Katalogbeitrag “FLUENTLY SOLID”

Rita Kanne