Schwebende Schwere - der Körper im Vorhang

Selten weiß der Betrachter von Kunst, wie das verwendete Material sich auf der eigenen Haut anfühlt. Denn im Alltag kommt der Körper nicht oft in Berührung mit Bestandteilen von Skulpturen, auch wenn ihre Materialen öfters aus dem alltäglichen Leben stammen. Bei Rita Kannes Arbeiten ist das anders. Sie verwendet Tür- und Terrassenvorhänge, durch die die meisten schon einmal hindurchgegangen sind. Vielleicht bei den Großeltern oder Eltern, vielleicht im Sommer, in Ferienwohnungen, vielleicht zu Hause oder beim Camping. Und man erinnert sich daran, wie die langen Fäden einen noch ein paar Schritte begleiten, auf der Haut und in den Haaren hängen, bevor sie sich wieder ablösen und in ihren ursprünglichen Zustand zurückfallen, manchmal mit Geräuschen, die im Ohr noch einmal die eigene Aktivität, das eigene Gehen bestätigen. Manchmal sind sie schön, dann gefallen die Farbe, die Perle oder ihr Spiel im leichten Durchzug. Auf jeden Fall nimmt man sie wahr, sie führen ein bewegtes Eigenleben im Haushalt mit ihren Bewohnern.

Bei Rita Kanne machen diese Vorhänge eine Hauptressource an künstlerischem Material aus, die vielen Objekten ihre Form geben. Zum Beispiel geflochten, gewebt oder in mehreren Reihen hintereinander aufgehängt. Dabei scheinen sie ihre Haptik und ihre Eigenschaften immer wieder zu verändern.

Beginnen wir bei den Masken. Kulturell haben sie eine komplexe Geschichte, angefangen bei spirituellen Ritualen, Festen bis hin zum Krieg oder zu szenischen Aufführungen wie Theaterspielen. Sie verhüllen Identität, verwandeln, dienen, machen Angst oder zeigen Hingabe. Bei Rita Kanne wirken die Masken körperlicher, werden fast zu Portraits, oder weiter noch, zu eigenen Charakteren. Sie sind geschlechtslos, aber ihre Eigenschaften bleiben ambivalent, etwas Gruseliges, Gefährliches geht von ihnen aus. Zugleich bestehen sie aus harmlosen Perlenvorhängen, die in diesem Volumen aber fließende, plastische Eigenschaften entwickeln. Man denkt an Wachs, an geschmolzenes Material oder an Farbmassen und Drippings. Etwas Zotteliges haben sie, so als wäre ein Fell durch glitzernde Schuppen ersetzt worden. Sind es Aliens? Mischwesen? Halb Tier, halb Mensch? Oder sind es Figuren aus Star Wars? Folklore oder Science-Fiction? Ausgestellt hängen sie immer leicht über der Augenhöhe der Betrachter. Ihre Größe überragt ebenfalls die Maße eines menschlichen Kopfes. Sie beobachten, vielleicht urteilen sie. Trotzdem schweigen sie. Noch.   

Anders als bei den Masken formen die Perlenstränge bei Himmel und Flying House eine Art von Gehäuse. In Himmel lastet beispielsweise im Gegensatz zu den schmuckvollen, stoffbespannten Baldachinen aus dem rituellen Kontext katholischer Prozessionen ein schweres, bedrohlich dunkel wirkendes Dach auf vier Stützen, von dem man sich besser fernhält.

Der Einsatz der Perlen ist je nach Objekt und Kontur von unterschiedlicher ästhetischer Wirkung. Rita Kanne schneidet die langen Vorhänge auseinander und verwendet die Stränge in den Farben und Längen, die sie braucht. Das kantige Volumen von Flying House entsteht beispielsweise durch die Reihung. Eigentlich sei das Material „nicht formgebend“, wie Rita Kanne bemerkt. Erst durch die Aufreihung wirkt es in der Mitte dichter und an den Rändern leichter. Eine gewisse Schwere brauchen die Perlenstränge, damit sie gerade nach unten fallen und sich zur Fläche verdichten. Insbesondere bei den Masken erkennt man aus der Nähe die Tropfenform. Sie tragen zum genannten Fließ- und Schmelzeffekt bei, aber auch zur Schwere und Masse der Skulptur. Obwohl diese Form an Wasser oder an Tränen erinnert, muten die Charaktere nicht sentimental, romantisch oder gar zerbrechlich an. Eher stehen die langen, eckigen Augenformen für Angriffslust und Stärke.

Die Objekte Modus 1 und Modus 2 basieren auf Schnittmustern für Oberteile. Körper werden auf diese Weise angedeutet, aber nicht konkret bestimmt. Die Form von Modus 1 stammt von einer Bluse, einem halben Schnitt. Durch die Terrassenvorhänge, diesmal sind es Fäden und keine Perlen, wirkt die eigentlich leichte Bluse wie ein Panzer, der zur Abwehr getragen wird. Festlich geschmückt ist jedoch der Brustbereich. Eine Üppigkeit entfaltet sich, dabei bleibt die Grundform kompakt und statisch. Auch in dieser Arbeit tritt die Ambivalenz wieder zu Tage. Modus 2 wirkt hingegen menschlicher, das Oberteil ist klarer in der Form, die herunterfallenden Fäden scheinen ein Kleid zu formen, in dem jedoch keine Beine stecken. Theatralisch erscheint die Figur zusammenzusinken, sich vielleicht noch einmal aufzubäumen oder sich tapfer wiederaufzurichten.

Geflochtene Haare sind es nur von weitem. Overhead 1 und 2 deuten übergroße Hinterköpfe an. Der braune Zopf fällt wie von Rapunzel zu Boden, die weißen Haare von Overhead 2 sind zu mehreren Zöpfen geordnet und krönen eine Art schwarzes Gewand. Fromm wirkt die Figur, aber auch gespenstisch unheimlich, da der angedeutete Kopf viel zu groß für den Körper ist. Von nahem erkennt man die dicken Haare, ein schwebender Geist, denn die Skulptur ist nicht auf dem Boden installiert, sondern an der Wand. Warum sie dem Betrachter und dem Kunstraum den Rücken kehrt, bleibt offen. Der Eindruck einer Weltabgewandtheit intensiviert sich, in Kontemplation, ins Gebet oder in die Introspektive vertieft, schwebt die Figur einige Zentimeter über dem Boden.

In Overhead 1 wird der Fokus auf den Kopf gelegt. Der Zopf besteht nicht wie gewöhnlich aus drei Strängen, sondern aus vier. Diese Flechttechnik ist eine subtile ‚handschriftliche‘ Geste der Künstlerin. Der unheimliche Moment ist hier noch einmal größer, da die haptische Differenz zur normalen Haarstruktur aufgrund der braunen Farbe, der Übergröße und Struppigkeit stärker auffällt. Es könnten auch kleine Rattenschwänze sein. Die Vertrautheit von menschlichen Haaren steht im direkten Vergleich zu diesem Material und lässt Irritation sowie Verstörung entstehen.

Das Flechten von Zöpfen, die Aufreihung von Perlenfäden, all dies sind Beschäftigungen, die man lange als weiblich und tugendhaft ansah. Bei Rita Kanne sind sie dies an keiner Stelle Das Material wird seinen Konnotationen und Vorurteilen entzogen, auch das Unprätentiöse, der Baumarktflair, dominiert nicht die Betrachtung. Mal erkennt man Formen, die auf menschliche Körper verweisen, mal auf Accessoires und Mode, mal auf strenge, kantige Architektur. Im Schwenk zwischen Sommernacht und Alienfilm wehren Rita Kannes Skulpturen Eindeutigkeiten ab.

Dr. Larissa Kikol

Katalogbeitrag “FLUENTLY SOLID”

Rita Kanne