Jedes Kopfüber fordert (k)ein Darunter

Steht etwas „Kopf“, bezeichnet dies idiomatisch einen ‚Regel widrigen’ Zustand. Das heißt: Etwas ist seiner naturgemäßen Gesetzlichkeit enthoben und behauptet damit eine Unabhängigkeit vom Vorherrschenden, aber auch eine Eigenständigkeit bzw. Eigenmächtigkeit, die dieses Etwas im Unterschied zu Dingen hat, die ihm vergleichbar sein könnten.

Im Sport sind Regeln unabdingbar. Bringen sie die Dynamik des Körpers doch erst in eine Richtung, grenzen einen sozialen Aktionsraum ab und stellen physische Handlungen in einen nachvollziehbaren Zusammenhang. Dieser lässt sich ebenso erleben wie er Gelegenheit zur Kommunikation bietet. Gäbe es eine Regel in der Kunst, dann höchstens die, dass Kunst keinen Regeln gehorcht. Sie muss nicht funktionieren und ist nur-sichtbar. Gleichwohl kann auch die Auseinandersetzung mit visueller Kunst Erlebnis und Kommunikation befördern. Im Gegensatz zum Sport, stellt sie jedoch Dinge auf den Kopf und spielt mit den gegebenen Gesetzmäßigkeiten. Und das Allerberste: Kunst schert sich nicht um ihr eigenes Gelingen. Immer aber birgt Kunst einen Anlass zur Wahrnehmung und ist irreduzibel mit dem Nachdenken über Kunst verbunden. Jedoch ist sie nicht selbstverständlich, sondern andersherum ein Gegenstand der Selbstverständigung – weshalb sie notwendig ein Subjekt benötigt, das sich über sich selbst verständigt. Und kommt es dabei zur ästhetischen Erfahrung, gibt diese uns ein Verständnis für das Funktionieren unseres Erkennens. Sie zeigen unsere Erkenntniskräfte in ihrem Zusammenwirken. In der ästhetischen Erfahrung fassen wir Vertrauen in das Funktionieren unserer Erkenntniskräfte. Nicht das künstlerische Objekt an sich, sondern die Auseinandersetzung mit diesem ermöglicht es, neue Perspektiven auf Vertrautes einzunehmen oder Handlungsweisen zu überdenken und zu verändern.

Vielfältige Impulse zu ästhetischen Erfahrungen liefert auch die Arbeit der Bildhauerin Rita Kanne, und schafft ganz nebenbei als Objekt eine Sinnfigur für das Möglichkeitsspektrum visueller Kunst, die immer nur droht, bedeutungsschwer einem auf den Kopf zu stürzen. Im Eingangsbereich der Sport-Jugendherberge Duisburg lauert unterhalb der Raumdecke, kopfüber ein Spielfeld. Übereinander liegende Markierungen eines Fußballfeldes und eines Sporthallenbodens entspinnen eine plastische Raumzeichnung hoch über dem Foyer. Es scheint, als erzeuge hier die Spiegelung vertrauter Linien aus dem Mannschaftssport ein großflächiges farbiges Deckengemälde, das sich wie im Barock mit jeder Bewegung im Raum verlebendigt. Aller Benutzbarkeit entzogen, wandelt sich das Spielfeld anhängig von der Perspektive zum Spiel-Raum der Wahrnehmung – ein Ereignisort, an dem unsere ganz eigenen Gedanken für den Moment der Betrachtung Kopf stehen dürfen. Ein Raum des Ästhetischen, der unsere unlösbare Raumbezogenheit und unsere sich stetig ändernden räumlichen Beziehungen vor Augen führt – eine Situation, in die man lustvoll sich versetzt, nicht, um von sich abzusehen, sondern weil man sich wie in jedem guten Spiel gerade selbst mitbringen muss.

Marcus Lütkemeyer

 

Rita Kanne