Die Tote von Zimmer 17

Wer unterwegs wider Willen ein Nachtquartier sucht, stößt gelegentlich auf kleine Gasthäuser und Pensionen, in denen "Fremdenzimmer" angeboten werden - eine altmodische Bezeichnung, die entwaffnend ehrlich beschreibt, was den Gestrandeten hier erwartet. Bevorzugt von Vertretern und Monteuren heimgesucht, die ihr Spesenkonto schonen wollen, sind es Orte ohne jeden Komfort, die unwillkürlich ein Gefühl der Fremdheit und Isolation vermitteln: Im Zimmer ein Waschbecken, dazu betagtes Mobiliar und vergilbte Mustertapeten, eine trostlose Szenerie im Schein einer schwachen Glühbirne - man hofft auf schnellen, traumlosen Schlaf, um die Reise am nächsten Morgen so rasch wie möglich fortzusetzen. "Fremdenzimmer" hat auch Rita Kanne eine ihrer Arbeiten genannt: ein Bett, in dessen Liegefläche die Intarsie eines (schlafenden) Schrankes eingelassen ist, während die Kopfwand eine Fototapete mit Strand und Palmen ziert. Was somit entsteht, ist ein hybrides Objekt von plastischer Bildhaftigkeit, das im Wechsel von Dimension und Perspektive ein ganzes Zimmer atmosphärisch komprimiert. Mehr noch werden den häuslichen Gegenständen verdichtete Lebensmuster eingeschrieben, die sich aus den Bausteinen unserer kollektiven Erinnerung zusammenfügen. Denn wenn Möbel Stichwortgeber sind, die von ihrer Zeit, ihrem Milieu und ihren (unbekannten) Benutzern berichten, so macht sich Rita Kanne eben diese Stellvertreterfunktion zunutze - im Rückgriff auf das Inventar der bürgerlichen Wohn- und Lebenswelt, das sie einer weitreichenden Verwandlung nach eigenen Maßgaben unterzieht. Fundstücke und skulpturale Konstruktionen tauchen dabei gleichermaßen auf, ergänzt um ein großes Repertoire von Materialien, das man in Heimwerkermärkten findet: selbstklebende Folien zum Beispiel, die Holzmaserungen imitieren, opakes Plexiglas für Duschkabinen, das den Durchblick vernebelt, dazu Aluleisten und Kartonagen, also lauter leicht verfügbare Werkstoffe, die hier im Sinne vieldeutiger, sprechender Anordnungen zum Einsatz kommen. “Wenn es nicht wahr ist, ist es sehr gut erfunden", behauptet ein Satz an der Wand, den Rita Kanne in solider Schreibschrift gebaut hat und hinterrücks aufleuchten lässt: ein Motto wie ein Menetekel, das viele ihrer Arbeiten treffend charakterisiert. "Wo ein Reisender ist, ist auch ein Verbrechen" - so könnte eine andere Behauptung lauten, die den Objekten und Installationen auf den Leib geschrieben steht, nicht nur, weil Rita Kanne bei ihrer Spurensuche ein geradezu kriminalistisches Gespür für musterhafte Konstellationen beweist. Denn neben farblich verfremdeten Fototapeten und stilisierten Automotiven, die alten Fahrschuldias entstammen, benutzt sie immer wieder Fernsehbilder, bevorzugt Szenen aus deutschen Kriminalfilmen der Nachkriegszeit, aus Stahlnetz, Tatort und dem Kommissar, um damit die Oberflächen ihrer Arbeiten ikonisch aufzuladen. So wird zum Beispiel ein weiteres Bett zum Fundort einer Leiche, inspiziert von Erik Ode alias Herbert Keller in der Rolle des TV-Ermittlers - dies aber nur in Gestalt einer extrem verzerrten Projektion, die sich wie ein langer Schatten über das Ensemble legt. Unwillkürlich denkt man an das harte seitliche Schlaglicht, mit dem solche Kammerspiele am Filmset ausgeleuchtet werden. "Die Tote von Zimmer 17" wäre dazu die passende Folge, wobei es ausgerechnet drei Handlungsreisende sind, die der Kommissar am Ende als Täter überführt. Auch in einer anderen Installation greift Rita Kanne auf mediale Motive zurück, darunter Stills aus der Sportschau und den Nachrichten, die per Diakarussell von Möbel zu Möbel weitergeworfen werden - gerade so, als hätten sich die Bilder durch den dauernden Fernsehkonsum in die Oberflächen eingebrannt. Das gilt um so mehr für eine Reihe von kompakten Vitrinen und Konsolen, die so genannten "Telemöbel", auf denen einstige Serienstars wie Hansjörg Felmy und Rudolf Platte im Porträt erscheinen - wiederum aus verschiedenen Folien intarsiert, so dass sie nur vage als Schattenrisse zu erkennen sind. Schon im Zustand der Verflüchtigung begriffen, haften diesen Ablagerungen zwar noch letzte Spuren von Heldentum und Nervenkitzel an, doch hat das bürgerliche Interieur mit seinem sperrigen Zubehör solche Sehnsüchte längst erstickt. Denn: das Leben ist kein Film, und es fehlt die dramatische Musik.

Stefan Rasche: Hotel California, 2007

Rita Kanne