Quartier

Das Modell standardisierter Raumzellen als Topos einer mobilen Gesellschaft scheint seinen Weg aus der Sphäre künstlerischer Entwürfe (von der Plug-In-Architektur der 60er Jahre bis zu den “living units” und “mobile homes” der 90er Jahre) ins wirkliche Leben längst gefunden zu haben. Unterschiedlichen Formen des modernen Nomadismus bietet es – ob als japanisches Kapselhotel oder als Obdachlosenunterkunft aus Kartons – die passende Infrastruktur. Rita Kanne bezieht sich mit ihrer Akkumulation gefensterter Umzugskisten auf solche reduzierten Formen menschlicher Behausung. Hergestellt für Transport- und Lagerzwe-cke werden die Boxen zu beweglichen, gleichwohl streng geordneten Modulen eines pseudo-architektonischen Ensembles, dessen gestapelte Einheiten jederzeit wieder ihrer ursprünglichen Funktion entsprechend genutzt werden können.
Gläserne Deckenleuchten mit Prismenmuster erweitern die Lesart zwischen Kartonlager und Architekturmodell um eine zusätzliche Dimension – die des Interieurs. Zur Erhellung der dämmrigen Kartoninnenräume scheinen die preiswerten Baumarktlampen allerdings ungeeignet. Sie sprengen den Modellmaßstab und überführen so das Verhältnis von Kisten und Leuchten in einen Dialog von Exterieur und Interieur. Diese bildhauerische Verschränkung von Innen- und Außenwelt findet ihre Entsprechung in einem Text, der von der Wand aus die Pappbausteine wie ein Band umläuft. Umstandslos erfolgt hier ein nahtloser Übergang vom Terrain transzendenter Überzeugungen zu dem banaler Konsumwirklichkeit. Mit der Verortung der “jenseitigen Welt“ als einer Art Freizeitangebot an der städtischen Peripherie zitiert Rita Kanne jenes gelegentlich frappierende Phänomen einer Nivellierung und Trivialisierung unvereinbarer Sphären, das unsere Lebenswirklichkeit kennzeichnet.

Gudrun Bott: Ausstellungskatalog 'Urbane Sequenzen', 2002

Rita Kanne