>> Meine Frau! Mein Urlaub! <<

von bildgesättigten Räumen und Gegenständen

In der Ausgestaltung des Wohnraumes spiegeln sich die Familien- und Gesellschaftsstrukturen einer Epoche wider.“1 Diese symbolische Abbild-Funktion, die Jean Baudrillard dem überlieferten Milieu bescheinigt, findet in den Objekten und Installationen von Rita Kanne eine skulpturale Entsprechung:
Stellvertretend für die Totalität gelebten Lebens geht sie von Fund- und Suchstücken aus, die sie ihren Arbeiten einverleibt, die sie plastisch verwandelt und kurios inszeniert. Möbel und anderer Hausrat, Reiseandenken, massenhaft reproduzierte Heiligenfiguren und geblümte Tapeten – es sind zumeist private Hinterlassenschaften, und doch haben sie ihre eigene Geschichte durch den Zugriff der Künstlerin endgültig eingebüßt, um nunmehr als prototypische Versatzstücke aus der bürgerlichen Wohn- und Alltagswelt in Erscheinung zu treten. Was Rita Kanne betont, ist somit zuallererst die Zeichenhaftigkeit der Gegenstände, die Baudrillard zufolge vor allem „auf der patriarchalischen Tradition und Autorität beruht“2–und damit kollektive Lesbarkeit garantiert. Denn gerade ihre Präsenz, das halb wohlige, halb klamme Gefühl, daß wir alle diese Requisiten kennen (oder zumindest zu kennen glauben), nutzt die Künstlerin für ihre vielfältigen Inszenierungen und Manipulationen, um uns immer wieder mit unserer kulturellen Identität zu konfrontieren. Anonymisierung und Auratisierung gehen dabei Hand in Hand, oder anders gesagt: Die von ihr verwandelten Dinge werden zu Repräsentanten landläufiger Lebensgeschichten, zu Ikonen deutscher „Durchschnittsbeschaffenheit“.

Neben handelsüblichem Mobiliar und anderen Gegenständen aus der Serienproduktion zählen zu diesem wohl vertrauten Repertoire auch sprichwörtliche Lebensregeln und christliche Sinnsprüche, wie sie für Demut und Frömmigkeit, für Fleiß und Anstand werben. Aus nichts wird nichts lesen wir etwa eingestanzt in den aufgeklappten Deckeln einer großen Pappschachtel: ein Motto, wie aus der Mottenkiste der Wirtschaftswunderjahre hervorgezaubert. Entsprechend gründet auch der wiederholte Einsatz von Behältnissen aller Art, von hölzernen Schreinen ebenso wie von schlichten Umzugskartons auf metaphorischer Introspektion – als Speicherplatz einer kollektiven Erinnerung, aus deren Tiefe die Künstlerin mustergültige Liegenschaften ans Licht befördert. Wie sehr die signalhaften Inschriften dabei mit den skulpturalen Trägern zu einer pointierten Einheit zusammenfinden, ohne sich in bloßer, gar nostalgischer Spurensuche zu ergehen, zeigen auch zwei Wandtafeln von 1997, in deren Oberflächen die Worte Bild und Bunte in den originalgetreuen Schriftzügen der beiden gleichnamigen Massenblätter eingeschnitten sind: Denn noch über deren Bedeutung als populäre „Meinungsmacher“ hinaus trifft der Betrachter hier auf eine knappe Versprachlichung dessen, was er zu sehen bekommt – zwei bunte Bilder nämlich, die Rita Kanne aus zahlreichen Schichten geblümter Mustertapeten aufgebaut hat.

Ohne daß die Künstlerin je selbst zur Kamera gegriffen hätte, bezieht sie seit 1997 auch die Fotografie in ihre skulpturalen Transformationen ein, indem sie viele der Wand- und Bodenarbeiten mit einfarbig kopierten Amateuraufnahmen aus privaten Fotoalben überzieht. Ähnlich den gemusterten Tapeten sind sie als ornamentale Makulatur auf die Oberflächen der Konsolen, Luftmatratzen und Wärmflaschen aufkaschiert, geben aber dennoch identifizierbare Bildinhalte preis. Fast immer greift Rita Kanne dabei auf anonyme Beispiele einer „Sonntagsfotografie“ zurück, die eben nur das Gute und Schöne, die Freizeit- und Festtagsvergnügen, den Besitzerstolz im Angesicht neuer Kinder, Häuser und Autos zu konservieren sucht. So zeigen sie das, was uns gemeinhin als erinnerungswürdig gilt, und doch wird ihre Einzigartigkeit als ein Konstrukt entlarvt, denn jedes der scheinbar unwiederbringlichen Ereignisse hat sich millionenfach in ähnlicher Form zugetragen, mit austauschbarem Personal vor austauschbarer Kulisse – ein Ritornell, das in Gestalt der standardisierten Copy-Muster seine augenfällige Entsprechung findet.
Daß dabei die Amateurfotografie als eine Art Sprachersatz funktioniert, daß also – auf die Arbeiten von Rita Kanne bezogen – zwischen den beredten Möbelstücken, den Schlagworten und den massenhaft geschossenen Bildern eine semantische Verwandtschaft herrscht, hat Dieter Hacker aus der Sicht des „Schubladenfotografen“ wie folgt beschrieben:
„Ähnlich dem Kind, das seine Sprache lernt, weist er auf die Dinge und zeigt: meine Frau! mein Urlaub!“3 Und auch Rolf Freier hat die Fotografie als Medium wortverwandter Repräsentanz definiert. So sei mit ihr „ein Abbildverfahren in die Welt gesetzt, welches als universeller Vermittler zwischen Gegenständen, Ereignissen und Handlungen in der Gesellschaft in Erscheinung tritt: eine Aufgabe, die vorher in diesem Umfang nur von der Sprache wahrgenommen wurde.“4 Darüber hinaus macht gerade der Einsatz gefundener Familien- und Urlaubsbilder deutlich, daß die von Rita Kanne exemplarisch ausgewählten Erbstücke aus dem Souterrain der jüngsten Kulturgeschichte auch eine komplexe zeitliche Dimension ins Spiel bringen, indem sie gleichermaßen vergangen und gegenwärtig sind, indem sie Leben und Tod, Erinnern und Vergessen auf sonderbare Weise verbinden. So verschleiern die Fotos insofern die Wirklichkeit des Todes, als sie den (inszenierten) Augenblick beliebig reproduzierbar konservieren und damit Unsterblichkeit vortäuschen. Zugleich aber ist dieser abrupten Bemächtigung des Lebens, einer Schockgefrierung ähnlich, der Tod schon immanent – ein Paradox, auf das Roland Barthes in Die helle Kammer hingewiesen hat: „Denn in einer Gesellschaft muß der Tod irgendwo zu finden sein; wenn nicht mehr (oder in geringerem Maße) in der religiösen Sphäre, dann anderswo; vielleicht in diesem Bild, das den Tod hervorbringt, indem es das Leben aufbewahren will.“5

In eine solche gutbürgerliche Bilderfalle hat Rita Kanne den Besucher ihrer Ausstellung Zur schönen Aussicht in der Städt. Galerie Remscheid im Frühjahr 1999 gelockt, nachdem sie über einen Presseaufruf alte Fotografien aus privatem Besitz erhalten hatte, um dann mit diesem Material einen ganzen Raum zu tapezieren. Als befände sich der Betrachter im Inneren einer laterna magica, führte die Vervielfältigung in der umlaufenden Horizontale zu einer regelrechten Beschleunigung der immer gleichen Einzelbilder. Die geläufige Vorstellung vom Dasein als Film, als rasante Abfolge einzelner Lebensstationen schien darin ein Echo zu finden, und doch entzog sich die entfesselte Bilderflut auch hier dem vorschnellen Zugriff, zumal die geschenkten Fotos in abstrakte Blaupausen verwandelt waren – und folglich ihr Eigenwert, ihr narratives Potential hinter der wand- und raumgreifenden Ornamentik fast ganz verschwand.

Dasselbe foto-kopistische Verfremdungsverfahren – in Grün – machte sich Rita Kanne auch für ihre Puppenstube zunutze, die sie erstmals im Oktober 1999 für die Themenschau Modell – Wirklichkeit in Münsters Städt. Ausstellungshalle am Hawerkamp realisierte. Ausgehend von einem räudigen Kinderspielzeug, das sich noch immer auf dem Speicher ihres Elternhauses befand, entstand eine offene Zwei-Zimmer-Bühne, die mit den nötigsten Möbeln ausgestattet war, wie sie einst die Alltagswirklichkeit von Vater-Mutter-Kind zu simulieren halfen. Sowohl das Inventar als auch die Innenwände waren dabei wiederum komplett mit Copy-Tapeten beklebt. Und während Rita Kanne für die Wohnstube historische Aufnahmen von Filmszenen und Schauspielern wählte, gerade so, als seien Fernsehbilder einer glamourösen Außenwelt an den Wänden der öden Heimstatt kleben geblieben, griff sie für das Schlafzimmer auf venezianische Postkartenmotive zurück, die, gleichfalls als projektives „Sehnsuchtspanorama“, an bessere, aber längst vergangene Tage in südlichen Gefilden denken ließen. In einen merkwürdig gedrungenen, quasi „kaputten“ Maßstab gebracht, suggerierte das Gehäuse weder Benutzbarkeit, noch entsprach es irgendwie dem Miniaturformat einer Spielware. Und auch die Einrichtungsgegenstände zeigten Spuren massiver Manipulation, zumal die Künstlerin zwar von originalen Fundstücken ausgegagen war, diese aber auf ihr Gerüst reduziert und in ihren Proportionen merklich verändert hatte. Dabei wies schon das Vorbild widrige Bruchstellen auf, denn, wie sich Rita Kanne erinnert: Die neuen Barbie-Puppen waren zu groß für die alten Möbel, saßen breitbeinig, mit staksigen Gliedern, fast schon obszön, auf den viel zu kleinen Stühlen.

Bildgesättigte Räume, Oberflächen, die sich mit Bildern aufgeladen und konnotiert haben – was Rita Kanne mittels ihrer Objekte und Installationen visualisiert, ist die musterhafte Allgegenwart des Erlebten und Geschauten. So besetzen die Bilder profane Orte, finden ihren Niederschlag auf alltäglichen Gegenständen, deren verbürgte Spiegelfunktion auf diese Weise ihre Blindheit verliert, deren stumme Zeugenschaft einem redsamen Gegenüber weicht. Und doch folgen solche Verknüpfungen keiner stabilen Ordnung, sondern legen assoziative Setzungen frei, die voller Sprünge, Zäsuren und Leerstellen sind: ein pulsierender Fundus disparater Zeichen, der sich einer allzu direkten Inbesitznahme entzieht – und die Freude am Wieder-Sehen schon bald als verfrüht zu erkennen gibt.

Stefan Rasche: ... besser als nichts, 1999

1 Jean Baudrillard: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. Frankfurt a.M./New York 1991, S. 25
2 a.a.O.
3 Dieter Hacker: Der Schubladenfotograf. In: Volksfoto. Zeitung für Fotografie, Nr. 1, 1976, S. 7
4 Rolf Freier: Der eingeschränkte Blick und Die Fenster zur Welt. Zur politischen Ästhetik visueller Medien. Marburg (Diss.) 1984, S. 44
5 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung
zur Photographie. Frankfurt a.M. 1985, S. 103

Rita Kanne